Das Leben ist ein Geschenk
„Ich nehme mein Leben als Geschenk an.“
(Affirmation aus „Ich bin da.“)
Wenn ich an die Menschen denke, die nicht mehr in meinem Leben sind – so wie heute an Allerheiligen – dann denke ich nicht nur an Tod und Vergänglichkeit, sondern vor allem denke ich an das Leben selbst. Denn was in meiner Erinnerung weiterlebt ist das, was diese Menschen für mich waren. Es sind Worte, die sie gesagt oder Dinge, die sie getan haben und die für mich Bedeutung behalten haben. Manchmal ist es auch das, was sie nicht gesagt oder getan haben – doch das hat natürlich mit mir selbst und meinen Erwartungen zu tun, mit dem, was ich mir von ihnen gewünscht hätte.
Das Leben ist ein Geschenk. Jedoch genügt es nicht, es einfach auszupacken und zu erwarten, es müsse ein gutes Leben sein. Vielmehr kommt es mit der Verantwortung, es selbst zu gestalten. Es selbst zu einem guten Leben zu machen. Es mit Sinn zu erfüllen.
Die Sinnfrage
Sinn wird bei diesem Geschenk nicht mitgeliefert. Doch wir fragen trotzdem: Welchen Sinn hat das Leben eines Menschen? Ich glaube, es gibt nicht „den Sinn“ des Lebens. Leben wird geschenkt, damit es gelebt werden kann. Das ist für mich der Sinn. Dabei gibt es nichts, das wir als selbstverständlich erwarten oder voraussetzen dürften. So viel Millionen Menschen es gibt, so viel unterschiedliche Sinngebung hat Leben.
Hermann Hesse hat das klar und deutlich formuliert: „Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind.“ Wir geben den Dingen Bedeutung.
Sinnhaftigkeit liegt meiner Meinung nach in dem, was man jeden Tag tut. Zum einen meine ich damit, was man täglich für sich selbst, die eigene Lebenszufriedenheit und sein inneres Glück tut, und zum anderen was man für andere Menschen tut, sowohl für einzelne Personen als auch für die Gesellschaft oder die Welt. Sinn liegt nicht darin zu fragen, was das Leben dir gibt und was dir die Welt bieten kann, sondern er entfaltet sich vielmehr in der Umkehrung der Frage: Was kannst du für die Welt tun, damit es den Menschen um dich herum auch gut geht? Und was kannst du für dich selbst tun, damit es dir gut geht?
Abhängigkeit oder Freiheit?
Jeder füllt das Geschenk täglich neu mit Leben. Jeder hat die Wahl, sich für Abhängigkeit oder Freiheit zu entscheiden und für die eigene Lebenszufriedenheit zu sorgen. Denn Sinn und Glück sind kein Geschenk der Götter, sondern die Frucht deiner inneren Einstellung, wie Erich Fromm sagte. Das kann kein anderer uns schenken, das gibt es nirgendwo zu kaufen, das kommt nicht per Zufall zu uns.
Viele Menschen stehen ihrer eigenen Lebenszufriedenheit im Weg, weil sie zu viel mit den Umständen hadern und weil sie zu oft erwarten, dass andere Unglück von ihnen fernhalten oder sie glücklich machen müssten. Sie geben anderen oder den Ereignissen Schuld an ihrer Unzufriedenheit und geben so die Verantwortung für ihr Lebensglück ab. Damit machen sie sich zum Opfer und begeben sich in Abhängigkeit. Die Gestaltung ihres eigenen Lebenssinns haben Sie aus der Hand gegeben.
Das Geschenk besteht aber gerade in der Freiheit der Selbstbestimmung. Niemand ist Opfer, der sich nicht zum Opfer macht. Es stimmt zwar, wir können häufig nicht bestimmen, was mit uns geschieht – in dieser Hinsicht sind wir Opfer. Doch jeder kann entscheiden, wie er mit den Ereignissen umgeht. Jeder kann entscheiden, sich nicht als Opfer zu fühlen und kann beginnen, seine Gedanken davon zu befreien. Jeder hat die Freiheit, seine innere Einstellung zu verändern.
Hier und Jetzt
So entscheidet sich immer im gegenwärtigen Augenblick, ob wir uns Freiheit gestatten oder uns abhängig machen. Ob wir jammern, weil die Welt schlecht zu uns ist, oder ob wir die Herausforderung des Leids annehmen. Ob wir Schuld suchen (gerne bei anderen, aber auch häufig bei uns selbst) oder ob wir schlicht annehmen was ist. Schon im Akzeptieren liegt Erleichterung. Es ist niemandes Schuld, es ist jetzt einfach so, wie es gerade ist. Betrachten wir das mit Wohlwollen, werden wir frei zu Handeln.
In jedem Leben gibt es Leid. Genauso gibt es in jedem Leben Freude. Und das oft ganz dicht nebeneinander, nicht nur zeitlich hintereinander. Es ist leidvoll, jemanden zu verlieren. Und es ist auch beglückend, ihn oder sie gekannt, gemeinsame Zeit gehabt zu haben und ein Stück Weg miteinander gegangen zu sein. Wenn ich diese Gleichzeitigkeit der Gefühle zulasse, entsteht Verbindung. Dann spüre ich Leid vielleicht als Liebe, Freude vielleicht auch als Dankbarkeit.
Entscheidung
Draußen stürmt es gerade und vor meinem Fenster sehe ich, wie der Wind den Regen waagrecht vor sich her peitscht. Blätter werden von Bäumen gerissen. – „Was für ein übles Wetter! Da kann ich doch gar nicht raus gehen heute!“, könnte ich jetzt denken und mir den Tag verderben lassen. Aber ich entscheide mich, das Wetter als ein für mich aufgeführtes Schauspiel zu betrachten. Blätter führen einen Tanz für mich auf. Der Wind will mir mit seiner unbändigen Kraft imponieren. Er rüttelt am Haus und macht mir mein Glück umso deutlicher: Ich sitze im Warmen und Trockenen. „Ist es nicht ein herrlicher Tag?“, denke ich und freue mich am Wetter.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie annehmen können, was das Leben Ihnen schenkt.
Der Artikel ist sehr schön geschrieben und inspirierend, vielen Dank!