Raus aus der Empathie-Falle
Nicht, dass wir uns missverstehen. Empathie ist gut. Sie ist angeboren, eingebaut im menschlichen Gehirn, ist sozial notwendig und verbindet Menschen emotional. In einer Zeit der Überindividualisierung unserer Gesellschaft, die eher ein zu wenig an Empathie begünstigt, wird sie mehr gebraucht denn je. Wer viel davon hat, genießt meist hohe Anerkennung und ist beliebt. Wer aber zu viel davon hat läuft Gefahr, den Bezug zu seinen eigenen Bedürfnissen zu verlieren.
Die Empathie-Falle
Würden Sie sich als empathischen Menschen bezeichnen?
Fangen Sie Vibrations auf, spüren Sie negative oder positive Energien?
Fühlen Sie sich schnell in diese Energien hineingezogen, mitgerissen oder gar überwältigt?
Wenn ja, dann könnten Sie bereits in der Empathie-Falle feststecken. Wenn Sie Gefühle anderer sensibel und schnell wahrnehmen, sich automatisch auf sie einlassen und sie sogar höher einschätzen als eigene, dann ist es offensichtlich: Sie sind in die Falle hineingetappt.
Wer in der Empathie-Falle steckt, denkt eindeutig zu wenig an sich selbst. Ein Zuviel an Mitgefühl erschwert den Kontakt zu eigenen Bedürfnissen. Ein Zuviel an mitfühlender Teilnahme am Leid oder der Freude anderer Menschen kann Überwältigung bedeuten. Ein Zuviel an Identifizierung mit anderen kann sich wie eine Geiselnahme durch Gefühle anderer anfühlen, in der es keinen eigenen Bewegungsspielraum mehr gibt. Ohne die Entscheidung wirklich aktiv getroffen zu haben, opfert der Überempathische seine eigene Gefühlswelt zugunsten einer anderen Person. Er oder sie erreicht erst gar nicht den Zustand, die eigene Welt voll wahrzunehmen.
Balance finden
Optimal ist ein Zustand von Balance zwischen Gefühl und Gedanken, empathischer Balance zwischen dem anderen und uns selbst. Das gelingt, wenn wir mitfühlen und trotzdem Distanz halten. Sind wir im Gleichgewicht, ist beides vorhanden. Wir gehen auf die Bedürfnisse anderer ein und verstehen, was sie umtreibt, aber trotzdem verlieren wir eigene Empfindungen und Bedürfnisse nicht aus den Augen.
Es ist ein Balanceakt, den zu meistern uns soziale und emotionale Intelligenz abverlangt. Es erfordert die geistige Geschicklichkeit, innerlich und emotional zwischen dem anderen und uns selbst zu wechseln und zu wissen, wann es Zeit für diesen Wechsel ist. Den emotionalen Zustand einer anderen Person zu erkennen und ihn zu teilen, ist ein komplexes inneres Erlebnis. Dazu braucht es Selbst-Bewusstsein; es braucht weiter die Fähigkeit, zwischen fremden und eigenen Gefühlen zu unterscheiden; die Flexibilität, die Perspektive des anderen einzunehmen; die Sensibilität, Emotionen des anderen und eigene zu unterscheiden; und schließlich das Know-How, all das innerlich zu regulieren.
Achtsame Empathie
Emotionale Intelligenz umfasst die Unterscheidung von Gefühl und Gedanke, von fremden und eigenen Bedürfnissen. Es bedarf der Übung, diese Grenzen zu finden. Und es bedarf auch der Übung, mit sich selbst empathisch zu sein. Es ist kein Egoismus zu glauben, dass die Balance der eigenen Gefühle genauso berechtigt ist wie die anderer Menschen. Es ist vielmehr eine Notwendigkeit seelischer Gesundheit, sein eigenes Gefühls-Leben ernst zu nehmen und auch sich selbst mit Empathie zu begegnen.
Achtsame Nähe mitfühlender Menschen spendet Trost und kann uns in schweren Momenten tragen; achtsame Distanz in dieser Nähe erhält uns selbst unsere Handlungs- und Reaktionsfähigkeit. Das gilt dann, wenn andere in eigene Gefühlswelten verstrickt sind und empathische Hilfe brauchen; und es gilt auch dann, wenn wir uns selbst beobachten und Verstrickungen mit unseren eigenen Gefühlen bemerken. Dann können wir Abstand halten und trotzdem Nähe ausdrücken, wenn wir sagen: „Ich verstehe, wie du dich fühlst.“
Empathie oder Mitleid?
All denen, die der Englischen Sprache mächtig sind, empfehle ich, diesen wundervollen Videoclip von Brené Brown anzusehen. Er bringt den Unterschied zwischen Mitgefühl (empathy) und Mitleid (sympathy) auf den Punkt.
Zu diese Blogbeitrag wurde ich inspiriert durch einen Artikel in der Online-Zeitschrift Mindful.
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