Gefühle hören nicht auf
„Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.“
(Rainer Maria Rilke)
Im Umgang mit schwierigen Gefühlen sind wir alle herausgefordert. Niemand bleibt verschont und jeden trifft es, jeden Tag. Gemeinsam ist uns dabei in der Regel, dass wir schlechte Gefühle nicht wollen. Es soll uns gut gehen und wir sollen uns gut fühlen!
Diese unausgesprochene und oft sogar unbewusste Erwartung bestimmt häufig ganz automatisch unser Verhalten. Ich erinnere mich z.B. an einen Satz, den ich als Kind schon gehört habe: „Ach, weine doch nicht, das tut doch schon gar nicht mehr weh.“ „Nun stell dich nicht so an, das ist doch nicht schlimm.“ – Und es hat doch noch weh getan. Und es war doch schlimm. Ich wollte es nicht hören. Aber dann, habe ich später als Mutter nicht diese Sätze auch zu meinem Sohn gesagt? Ja, ja, es soll uns schließlich gut gehen und unangenehme Gefühle müssen aufhören!
Unangenehme Gefühle hören nicht auf
Wir ahnen, dass dies natürlich nicht möglich ist. Und weil das ein so bewegendes Thema ist, wollte ich heute über Gefühle schreiben. Ich wollte darüber schreiben, wie diese Erwartung an das Leben „Es soll mir gut gehen!“ unrealistisch ist und dass es nicht gelingen kann, Gefühle zu ignorieren, weil sie, wenn sie bedeutungsvoll sind, sich so oder so eine Bühne in unserem Leben suchen und gewiss auch eine finden, auf der sie sich zeigen dürfen. Gefühle wollen angeschaut werden. Sie gehören zu uns Menschen und sind uns eigen, sowohl unangenehme als auch angenehme Gefühle.
Ich wollte dann auch darüber schreiben, wie clever unser Verstand als Erfüller dieser Erwartung agiert und Angebote macht, wie wir unangenehme Gefühle umschiffen können, wie wir sie am besten vermeiden oder sie vielleicht sogar ganz abschaffen. Eine sehr einflussreiche Instanz in uns glaubt offenbar, dass nicht sein kann, was nicht sein darf und gibt uns automatisch sehr aktiv Hinweise für unser Verhalten.
In diesem Zusammenhang wäre mir wichtig gewesen einmal zu sagen, dass es schließlich auch nichts nützt, positive Affirmationen einem negativen Gefühl einfach nur entgegenzustellen, sondern dass wir vorher dieses negative Gefühl erst einmal spüren müssen. Das negative Gefühl zuzulassen, es anzunehmen und zu verstehen, hat eine sehr positive Wirkung, weil aus diesem Verständnis heraus, aus diesem annehmenden Umgang mit negativ erlebten Gefühlen hilfreiche Affirmationen entstehen können und uns helfen, auf einem Weg weiterzugehen, auf dem sich das Leben „besser“ im Sinne von stimmiger anfühlt.
Dabei hätte ich gerne auch noch etwas über Vermeidungsmechanismen geschrieben. Denn darin sind wir alle gut, unsere inneren Probleme vermeintlich zu lösen, in dem wir sie in Wahrheit vermeiden, umschiffen, gegen sie kämpfen oder sie weg-denken, weg-reden, weg-laufen, weg-trinken, weg-schieben. Unsere Einfälle sind da absolut kreativ und irgendwie ist meist Verlass auf diese automatisch entwickelten Mechanismen. Es lässt sich nicht leugnen, dass sie auch wirklich oft hilfreich sind, ja uns vielleicht sogar in manch einer Situation schon gerettet haben.
Doch dann kommt das Aber … Aber auf Dauer ist das alles eben keine wirklich endgültige Lösung. Während ich das eine Gefühl vermeide, schaffe ich mir woanders andere Probleme.
Zwei Beispiele
Bernd H. will anerkannt werden. Sein Vater hat ihn stets angetrieben und war leider doch nie so ganz zufrieden mit ihm. Um das negative Gefühl, das die mangelnde Anerkennung unterschwellig verursacht, nicht mehr zu spüren, entwickelt sich Bernd zu einem Perfektionisten. Alles vom Besten, vom Feinsten, Karrierre, und große Leistungen bringen ihm viel Anerkennung. Das kostet Kraft und erzeugt inneren Druck. Der raubt ihm den Schlaf. Um besser zu schlafen, trinkt er abends eine Flasche Wein. In letzter Zeit meist zwei. Alles andere interessiert ihn weniger und weniger. Auch seine eigenen Kinder und seine Frau spielen eine Nebenrolle im Leben. Diese ist damit nicht zufrieden und verlässt ihn. Jetzt ist er allein.
Angela S. sollte eigentlich ein Junge werden. Die Eltern waren immer irgendwie enttäuscht darüber, dass sie nur ein Mädchen war, obwohl sie sie natürlich geliebt haben. Aber in Angela entwickelt sich ganz diffus so ein Gefühl von nicht wirklich geliebt zu werden, nicht wirklich genug Wert zu sein, nicht wirklich eine Lebensberechtigung zu haben. Sie macht dieses Gefühl stumm mit ihrer unglaublichen Lebenslust. Sie ist sehr sportlich und aktiv, hat viele Freunde, ist überall der Clown und die Partykanone. Sie fühlt sich wertvoll, solange sie von außen Bestätigung erhält. Doch wenn sie allein ist, kommen Zweifel auf. Sie hat auch häufig Kopfschmerzen und beginnt, Tabletten zu nehmen, damit sie sich besser fühlt. Mit zunehmendem Alter macht sie auch immer weniger Sport und ihre alten Witze will keiner mehr hören. Plötzlich überfällt sie eine tiefe Trauer und sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll. Was ist nur mit ihrer Lebenslust passiert?
Ich bin gescheitert
Es ist mir nicht gelungen, das Thema auf ein paar Zeilen zu reduzieren. Gefühle und der Umgang mit Gefühlen sind ein schwer zu greifendes oder zu beschreibendes Phänomen. Nie können wir wissen, wie andere wirklich fühlen. Es bleibt bei dem Versuch, sich in andere einzufühlen, doch es sind immer die eigenen Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen. In jeder Person nehmen Gefühle aufgrund ganz persönlicher Erfahrungen einen sehr unterschiedlichen Verlauf. Nur eines scheint offensichtlich alle Menschen zu betreffen: Wir sind leicht verletztlich. Verletzungen müssen versorgt und verbunden werden, beachtet und ernst genommen, damit sie ausheilen. Und dann lernen wir vielleicht, mit den Wunden zu leben.
Jeder von uns ist ein Spezialist darin, seine eigenen Gefühle zu erforschen und zu verstehen. Mag sein, dass wir manchmal nicht wirklich sagen können, was genau „das Schlimme“ ist, aber wir spüren, dass etwas nicht stimmt. Das macht uns Angst. Das ist unangenehm. Das kann sehr weh tun. In dieser Situation dann den Schmerz zu benennen, kann alles verändern. Und auch davor haben wir Angst. Doch es wird das einzige sein, das den Schmerz für uns verstehbar und aushaltbar macht. Es kann sogar sein, dass er dann ganz verschwindet. Aber es könnte ebenso sein, dass er nicht aufhört, sondern nur langsam abnimmt.
Es muss uns nicht immer gut gehen und wir müssen uns nicht immer gut fühlen. Und auch das ist keine angenehme Erkenntnis. Doch es ist gut, das zu wissen und sich darauf einzustellen. Wir alle können diese Kraft entwickeln, auch das Unangenehme auszuhalten und es in unser Leben neben all den vielen angenehmen Gefühlen, die wir auch haben, zu integrieren. Das fühlt sich stimmig an. Nicht immer angenehm, aber insgesamt richtig. Denn Gefühle sind für uns Menschen gemacht.
Vorgefühl
In diesem Sinne verabschiede ich mich heute etwas nachdenklich, aber durchaus optimistisch und kraftvoll mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke, das ich so sehr passend zu diesem Thema finde. Vielleicht können Sie mir darin folgen und sich etwas aus seiner poetischen Beschreibung eines „Vorgefühls“ mitnehmen. Wenn Ihnen danach ist, dann schreiben Sie mir doch, wie es Ihnen mit Ihren Gefühlen geht.
Vorgefühl
Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.
Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem großen Sturm.
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