Neugierig auf Menschen
Im letzten Monat bin ich viel gereist. Auf den Flughäfen fällt mir auf, wie gut Menschen verschiedenster Hautfarbe, Glaubensrichtung und Nationalität miteinander harmonieren. Bunt gemischt sitzen sie friedlich nebeneinander, sprechen durcheinander und miteinander. So könnte die Welt doch funktionieren!
Ich betrachte diese Mischung jedes Mal sehr neugierig. Es gibt so vieles zu sehen, die Menschen sind so unterschiedlich! Ich versuche mir vorzustellen, was jeden einzelnen Menschen besonders macht, welcher Charakterzug, welches berufliche Interesse, welche Lebensgeschichte. Niemand ist blass, jeder hat seine bunten Seiten. Diesem mentalen Spiel sind keinerlei Grenzen gesetzt, nur die meiner eigenen Vorstellungskraft. Und die Wahrheit ist oft überraschend.
Welche Welt ist erkennbar?
Ich kann nur erkennen, was sich mir zeigt. Was wirklich in anderen vorgeht, bleibt verborgen. Ich kann nur spekulieren darüber, in welcher Welt sie leben, warum sie auf Reisen sind, wie sie mit anderen Menschen umgehen, ob sie Musik- oder Kunstfreunde sind, ob sie eine Familie haben oder einsam sind – was in der jeweiligen Welt einer Person vorgeht, das ist keinem anzusehen.
Umgekehrt frage ich mich, was Menschen sehen, wenn sie mich anschauen oder beobachten. Was mögen sie denken? Wie mögen sie mich einschätzen? Bestimmt liegen sie alle völlig daneben. – Und ich weiß, es ist unmöglich, auch nur zu erahnen, was jeder Mensch verkörpert.
Begegnungen sind Ausschnitte
Der Zufall will es manchmal, dass eine Begegnung stattfindet und es zu einem Gespräch mit einem Fremden kommt. Wie von einem kurzen Lichtstrahl erhellt, schimmert dann etwas von der Persönlichkeit meines Gegenübers durch. Ich sehe einen winzigen Ausschnitt aus dem Facettenreichtum der Person.
Ich überlege: Sehen wir wirklich die Person, die vor uns steht? Der kleine Ausschnitt kann eine Maske sein, eine Fassade, mit der ein Sicherheitsabstand eingehalten wird. Denn wer will sich einer fremden Person gegenüber einfach so zeigen, wie er wirklich ist? Verletzlich vielleicht, unsicher oder unwissend. Ungeduldig oder herrisch. Ich überlege mir weiter, was ich nicht gerne zeigen möchte und gebe diese Frage an Sie weiter: Was möchten Sie nicht gerne einem Fremden zeigen?
Nachdenkenswert
Ich spinne den Gedanken weiter. Wollen wir uns überhaupt zeigen, wie wir wirklich sind? Versuchen wir nicht ganz häufig so zu sein, wie andere erwarten, dass wir in einer bestimmten Situation gerade sein sollen? Wir könnten uns blamieren, auffallen oder nicht in den Rahmen passen und anecken. Vielleicht sollten wir gerade das gar nicht so sehr scheuen, anzuecken und aufzufallen – wenn es das ist, was wir eben sein und zeigen wollen. Für manchen von uns gehört dann etwas Mut dazu.
Wie viel gibt jeder preis?
Ich denke an meine Familie, meine Geschwister. Meinen Sohn. Meinen Mann. Eine Freundin. Wie viel weiß ich wirklich von ihnen? Ich glaube, was sie mir zeigen, ist die Welt, die sie selbst im Griff haben wollen. Jeder will sich von seiner besten Seite zeigen und die anderen Seiten mit sich selbst ausmachen.
Und doch: Sich verletzlich, unsicher, ängstlich, panisch, hilfsbedürftig oder unwissend zu zeigen, ebnet den Weg für Mitgefühl und Verständnis. Damit befinden wir uns auf einer Ebene von Beziehung, die ich als besonders kostbar erachte.
Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts
Von Neugierde ausgehend, bin ich schließlich bei Gedanken um eine tiefere Ebene von Beziehung angekommen. Wer neugierig auf andere ist, mit ihnen spricht, ihnen zuhört und nachfragt, wird etwas über sie erfahren. Echte Begegnung und Verständnis werden möglich und dazu die Chance, auch selbst besser gesehen zu werden. Um dieses Niveau zu erreichen, will ich es zukünftig bewusst und öfter wagen, ganz einfach die zu sein, die ich bin.
So anregend kann also Reisen sein! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ebenfalls von Neugier und Mut getragene menschliche Begegnungen – sei es mit fremden oder Ihnen sehr nahestehenden Personen.
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