Sich selbst mitnehmen
„Man nimmt sich mit, wohin man geht.“
(Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie)
Im ersten Moment gab mir dieses Zitat ein gutes Gefühl: Das ist doch etwas Verlässliches, dass ich mich immer selbst dabei habe. Doch dauerte es nicht lange, bis sich ein mulmiges Gefühl nachschob: Heißt das nicht, ich habe dann alles Ungeliebte, Schwache, nicht Vorzeigbare in mir und so weiter ebenfalls dabei? Das anfänglich gute Gefühl relativierte sich ein wenig.
Auf jeden Fall brachte mich dieser Satz ins Nachdenken und ich möchte Sie an meinem Gedankenausflug teilhaben lassen. Zuerst tauchen Fragen auf: Wen genau nehme ich denn wohin mit? Und wer ist dann dieses Ich, das ich dabei habe? Gibt es überhaupt ein Verlässliches Ich in mir? – Das reicht mir für den Anfang und innerlich bin ich jetzt schon auf noch weitere Fragen vorbereitet.
Wen nehme ich wohin mit?
Schon die Frage allein macht deutlich, dass ein „Ich“ viele Gesichter hat. Es fühlt sich vor den Eltern völlig anders an als vor der Freundin/dem Freund. In einem Gespräch mit Respektpersonen (z.B. einer bewunderten Person, einer Autorität oder dem Chef) zeigen wir ein anderes Ich als im Kontakt mit Menschen, die wir nicht kennen, von denen wir uns nichts erhoffen oder von denen wir nichts zu befürchten haben. Das Alltags-Ich überrascht uns nicht mehr, während in unerwarteten Situationen wir uns möglicherweise selbst von einer neuen Seite kennenlernen. Was wir so selbstverständlich als „Ich“ bezeichnen, ist demnach nicht einheitlich, sondern vielseitig und diese Ich-Anpassungen passieren überwiegend automatisch.
Wer ist das Ich?
Irgendwann beginnen wir zu bemerken, dass wir manchmal stark und selbstsicher sind, ein anderes mal aber voller Selbstzweifel; dass wir ganz genau wissen, was wir wollen, und doch kurze Zeit später nicht danach handeln; dass wir nach außen ein Gesicht zeigen, das unserem Inneren in keiner Weise entspricht. – Sind wir erst einmal erwachsen geworden, nehmen wir diese Widersprüche in uns deutlicher wahr. Was ist da nur los, mit unserem Ich?
Wenn innere Spaltung und Vielfalt bewusst werden, ist das auch mit Verwirrung verbunden. Verschiedene Ich-Zustände in uns konkurrieren miteinander. Setzen wir uns damit auseinander, müssen wir wohl oder übel unsere vielen, unterschiedlichen und zuweilen gegensätzlichen inneren Überzeugungen, Handlungsmotive, Gedankengänge und Gefühlsvariationen als zusammengehörig anerkennen. Das führt zu der Erkenntnis: Ich bin viele.
Das Kind-Ich kämpft mit dem Erwachsenen-Ich; die weiche, nachgiebige Seite liefert sich Machtspiele mit der diszipliniert durchsetzungswilligen; eine Stimme der Vernunft versucht sich argumentationsstark gegen drängende Gefühle durchzusetzen oder umgekehrt; der mächtige Hang zur Bequemlichkeit liegt mit guten und ehrgeizigen Vorsätzen im Clinch. – Wer könnte davon nicht ein Lied singen?
Gibt es ein verlässliches Ich?
Zumindest gefühlt identifizieren wir uns trotz allem mit etwas Verlässlichem, das sich wie „Ich“ anfühlt. Im Alter von ungefähr zwei Jahren entdecken wir, dass wir eine selbstständige Person sind und bald sprechen wir über uns selbst in der Ich-Form. Und irgendwie gelingt es uns auch als Erwachsene noch, wenn wir älter und älter werden, uns mit diesem Kind verbunden zu fühlen, obwohl wir ganz offensichtlich inzwischen völlig Andere geworden sind und diese Veränderung weitergeht – denn Entwicklung hört ja nicht auf. Wer wir früher waren, unterscheidet sich von der Person, die wir heute sind.
Ein verlässliches Ich? Damit stellt sich die Frage nach der Identität und es liegt die Antwort nahe: Identität ist ein Prozess. Verlässlich in mir ist das einigende Gefühl, trotz aller Veränderung noch immer die gleiche Person zu sein – in einem Körper, der sich ebenfalls kontinuierlich verändert, und einem Geist, der der Anpassung in hohem Maße fähig ist.
Weitere Fragen?
„Erkenne dich selbst“ – seit Urzeiten stellen sich Menschen die Frage: Wer bin ich? Und vermutlich wird es im Laufe eines Lebens viele unterschiedliche Antworten geben, weil eben dieses Leben immer neue Fragen aufwirft, weil es uns verändert und uns jede Erfahrung zu anderen macht, als wir einmal waren.
So gesehen, fühlt es sich jetzt doch gut an, dass ich mich selbst überall hin mitnehme, denn das Fundament, auf dem ich mich verändere, ist mir irgendwie angenehm vertraut.
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