Schöner Rückzug und der Mut zu schwierigen Gefühlen
„Ein schöner Rückzug ist ebensoviel wert als ein kühner Angriff.“
(Baltasar Gracián y Morales, 1601 – 1658, spanischer Jesuit, Moralphilosoph und Schriftsteller)
Der Mai ist gekommen, der Wonnemonat hat begonnen. Wir erwarten die schönste Zeit des Frühlings: Blumen, Schmetterlinge, zartes Grün, Wachstum überall – der Mai ist eine Zeit, sich dem überall beginnenden Leben zu öffnen, das spüren und wissen wir. Doch für mich persönlich fühlt es sich irgendwie an diesem 1. Mai nicht so an. Ich möchte nicht „kühn“ sein und das Leben in Angriff nehmen. Ich möchte mich eher „schön“ zurückziehen, auf eine stille Seite des Lebens.
Ja zum Leben!
Ich trage ein Armband auf dem steht: „Ich sag JA zum Leben!“ – doch das ganze Ja will mich in der letzten Zeit nicht erreichen, irgend etwas in mir hindert mich, es zu umarmen. Vorschnelle Gedanken, die sich über dieses leise Nein in mir ärgern wollen und die mir einreden, das könne doch gar nicht sein, dass ich so fühle, schiebe ich weg. Nein, ich möchte das noch diffuse Gefühl nicht verdrängen, möchte es nicht klein machen, ignorieren oder nicht wahrhaben wollen. Schließlich ist es nun mal da und ich entscheide mich deshalb, neugierig zu verfolgen, was sich aus diesem Gefühl entwickelt. Auch das ist schließlich eine Art, Ja zum Leben zu sagen, oder? Ich merke, wie ich mich innerlich zurückziehe und bewusst beobachte, was passiert, während ich weiterhin das tue, was ich sonst auch tue. Ich will nichts werten und mir nichts einreden, sondern ich möchte den Gefühlen in mir Platz machen, ohne ihnen eine Richtung vorzugeben.
Mut zu schwierigen Gefühlen
In der Beschreibung meines Blogs habe ich vor vielen Jahren geschrieben: „Der Mut und die Fähigkeit, das eigene Wesen zur Entfaltung zu bringen, ist Grundlage aller persönlichen Entwicklung.“ Und wieder einmal mehr wird mir bewusst, dass es schon eine Menge Mut braucht, jener Seite oder jenen Seiten meines Wesens Platz einzuräumen, die sich nicht vordergründig lebensbejahend zeigen. Ich fühle mich verletzlich, vielleicht sogar ein wenig traurig, hilflos, angreifbar, dünnhäutig. So ist das. Ich will es nun spüren – ohne in die Zukunft zu denken oder zu analysieren, warum und wieso. Gründe gibt es immer viele, wenn man zu suchen beginnt. Doch mein einziges Bedürfnis ist es im Moment, einfach zu spüren, wie mich das ausfüllt – sprichwörtlich körperlich, von der Kehle über die Schultern zum Herzen, über die Atmung und eine spürbare Irritation meines ganzen Körpers.
Was ich erlebe, so wird mir jetzt bewusst, ist auch eine Form von Aktivität. Da wird etwas in mir ganz lebendig, weil ich ihm den Raum gebe und es wahrnehme, weil ich nicht weg- sondern hinsehe, weil ich es aushalte und bereit bin zu spüren und zu warten, bis es … ich weiß nicht, was passiert. Im Rückzug wird die nächste Bewegung vorbereitet. Innehalten unterstützt mich. Die Gegensätze des Lebens inspirieren mich.
Gegensätze und Wellenbewegungen
Meine Erfahrung gibt mir die Sicherheit, dass alles in Wellenbewegungen verläuft und Gegensätze sich abwechseln. Hochs und Tiefs sind noch immer aufeinandergefolgt, wo Licht ist, ist auch Schatten und so lange sich die Erde um die Sonne dreht, wechseln sich Tag und Nacht ab. Und meine Erfahrung lehrt mich weiter, dass (persönliche) Entwicklung manchmal auch abwartend und zulassend stattfindet, nicht nur gezielt und aktiv. So kann es sein, dass wir uns nach einem Rückzug selbst überraschen mit einem nicht geplanten Ergebnis, das einen Schritt nach vorne bedeutet. Auch das ist Lebendigkeit, und es ist eine Lebendigkeit, zu der ich wieder JA sagen kann.
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