Jeder braucht seine Angst als Schutzmechanismus
„Das Wichtigste, was Sie brauchen, ist Angst“
Dr. Gerald Hüther vertritt mit dieser Meinung einen Standpunkt, der mich zunächst einmal stutzig macht, wenn nicht sogar einen inneren Widerstand auslöst. Also nein, so denke ich, Angst brauche ich nun wirklich nicht noch mehr, als ich sie ohnehin schon in den unpassendsten Augenblicken habe! Alles in mir wehrt sich.
Aber natürlich bin ich auch neugierig geworden zu verstehen, was hinter dieser provokativen Aussage steckt.
Angst kann zu Mut werden
Angst ist ein Schutzmechanismus und eine Triebfeder zur Veränderung. Sie lässt dich erkennen, dass etwas nicht im Lot ist und du an dieser Stelle etwas verändern musst, damit es dir wieder besser geht. „Vor jedem Neuanfang steht eine innere Irritation“, sagt Dr. Hüther, „die das Gehirn dann beseitigen will.“ Das Gehirn sucht nach einer Lösung, um die Irritation (Angst) zu beseitigen und wieder in ein Gefühls-Gleichgewicht zu kommen.
Das stimmt immer dann, wenn die Angst so dosiert ist, dass sie beherrschbar ist. In kleineren Alltagssituationen trainiert das Gehirn ständig diesen Prozess. Schwierigkeiten und Herausforderungen lösen ein bisschen Angst in dir aus – ein unangenehmes Gefühl folgt. Dein Gehirn will diese Störung beseitigen. Du nutzt diese Energie und wandelst sie um in den Mut, etwas zu verändern: Du findest eine Lösung, gehst einen neuen Weg. So wird Angst zur Triebfeder. „Ein kleines bisschen Angst ist gut, sie wirkt wie ein Katalysator.“ Genau das ist es, was wir zu menschlichem Wachstum brauchen.
Angst kann lähmen
Was aber, wenn die Angst lähmend ist? Dann passiert etwas Fundamentales im Gehirn. Jeder muss individuell versuchen zu verstehen, was diese lähmende Angst in ihm auslöst und warum eine Situation innerlich als nicht mehr kontrollierbar bewertet wird. Das Gehirn reagiert darauf. „Wenn es in eine bestimmte Richtung nicht mehr weiterzugehen scheint, wird ganz einfach all das aufgelöst und weggespült, was uns so hartnäckig daran hindert, eine andere Richtung einzuschlagen, neue Wege des Denkens und Fühlens auszuprobieren“ (aus: „Biologie der Angst“, 2012)
Gelingt es uns, unsere Einstellung gegenüber der Situation zu verändern, kann sich auch die lähmende, unbeherrschbare Angst verändern und milder, wieder kontrollierbar werden. Auf der Suche nach den Ursachen mag therapeutische Hilfe unterstützend sein, damit ein Ausweg gefunden wird.
Angst als Chance
Am Ende verwundert es mich nicht mehr, dass die Angst – wie alles andere auch – zwei Seiten hat: Wirkt sie überwältigend und unkontrollierbar, lähmt sie uns und das Gehirn schaltet ab. Du musst die Situation erst verlassen, um neue Wege zu finden, um zukünftig anders damit umzugehen. Ist die Angst jedoch überschaubar für uns, dann ist sie unser Freund. Sie unterstützt uns bei unserer menschlichen Weiterentwicklung, wird zur Triebfeder der Veränderung und fordert unseren Mut heraus.
Die Botschaft ist: Du bist nicht ausgeliefert, bist nicht wehrlos; du kannst etwas tun und zu deinem Mut finden. Du kannst dich aktiv verändern.
(Die Zitate sind einem Interview vom Januar 2015 aus der Zeitschrift „Elle“ entnommen. Die Zusammenhänge zwischen Fühlen, Denken, Handeln und damit verbundenen Vorgängen im Gehirn sind nachzulesen in Prof.Dr. Gerald Hüters Buch „Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Vandenhoeck 2012)
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