Verzeihen und vergeben
Ich höre gerne Musik von Sarah McLachlan. Die Instrumentierung ihrer Melodien sprechen mein Bauchgefühl oft ganz direkt an und die Harmonien gehen mir häufig durch und durch.
Natürlich nicht alle Titel, aber doch vieles von ihr höre ich mir immer wieder mit Hingabe an. Dazu gehört ein Lied von ihrer CD „Laws of Illusion“: Forgiveness – Verzeihen.
Der Titel hat mich sehr zum Nachdenken inspiriert, denn das Thema verzeihen und vergeben, genauer: das Gegenteil, also nicht verzeihen und nicht vergeben können (wollen?) begegnete mir häufig in den >Dialogen mit meinen Klienten. Die Fähigkeit zu verzeihen, erfordert Großmut, Empathie und die Bereitschaft, Vergangenes in der Vergangenheit zu lassen. Bei vielen Menschen sträubt sich innerlich etwas, wenn sie sich mit gefühlter Ungerechtigkeit arrangieren (Ist das nicht Verrat an eigenen Prinzipien?) und etwas verzeihen sollen, das vielleicht für immer unverständlich bleibt.
Der Schwache kann nicht verzeihen.
Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.
(Mahatma Gandhi)
„When you ask for forgiveness you are asking too much.“ Wenn du um Verzeihung bittest, dann verlangst du zu viel, singt Sarah McLachlan in ihrem Lied. Sie gehört nicht zu den starken Menschen, sie kann nicht verzeihen. „I have sheltered my heart in a place you can’t touch.“ Sie hat ihr Herz an einem Platz verborgen und geschützt, an dem es nicht mehr berührt werden kann.
Bitterkeit verhindert Liebesfähigkeit
Ein unerreichbares Herz führt zu Bitterkeit. Verbitterung ist schneidend. Wie eine frische Schnittwunde schmerzt sie nach innen. Wie eine messerscharfe Schneide trennt sie das Herz von lebendiger Liebe. Langfristig leiden wir selbst am meisten darunter, nicht verzeihen zu können, denn wir berauben uns damit tiefer, heilsamer Gefühle. Auf Dauer wirkt Verbitterung einschneidend auf unsere Beziehungen: Angst vor erneuter Enttäuschung verhindert das überwältigend erfüllende, unschuldige Gefühl bedingungslosen Vertrauens.
Unschuld geht verloren, das wissen wir und da machen wir uns wohl auch nichts vor. Was wir erleben, verändert uns, wir machen unsere Erfahrungen und reifen daran. Heißt das denn auch, dass die Erfahrungen uns machen? Wie viel Spielraum geben wir uns selbst dabei, mit unseren Erfahrungen bewusst umzugehen? Wie sehr beruhen Re-Aktionen auf enttäuschten Erwartungen – also negativen Erfahrungen – und entstehen aus bestimmten Mustern in unseren Köpfen (sind also nicht originär und angemessen, sondern schablonenhaft)?
Alte Muster sind neuen Situationen nicht angemessen
Jeder von uns hat bestimmte Schwachstellen. Drückt jemand die „richtigen Knöpfe“, wird unser Verhalten vorhersagbar: Das Kleinhirn sendet Impulse, Hormone werden ausgeschüttet, Neuronen schießen – eine Reaktionskette wird mobilisiert. Solange wir nicht das Großhirn ein- und dazwischenschalten, macht die Erfahrung uns, wir verpassen die Chance zu selbstbestimmtem Verhalten, wir werden bestimmt. Die Gefahr besteht, ängstlich die Erfahrungen alter Situationen auf neue zu übertragen und darin steckenzubleiben. Statt die neue Situation wirklich voll zu erleben, machen wir dicht und reagieren mit einem Muster.
Wird eine solche Re-Aktion einer neuen Situation gerecht? In den meisten Fällen wohl eher nicht. Natürlich ist es weise, sich selbst so gut es geht vor Verletzung zu schützen. Doch welchen Preis wollen wir dafür bezahlen? Verlieren wir den direkten Kontakt zum Geschehen, agieren wir nicht mehr wirklich im Hier und Jetzt, sondern wir verschließen uns vor dem aktuellen Leben, um erneuten Schmerz zu vermeiden.
Kann es gelingen, in kritischen Momenten im Hier und Jetzt zu bleiben und nicht mit einem Muster zu reagieren? Haben Sie Erfahrungen damit?
Ich selbst habe gelernt, dass ich das Risiko einer Enttäuschung immer wieder neu eingehen muss, damit ich mich nicht von den für mich lebensnotwendigen Gefühlen wie Vertrauen und Liebe abschneide. Liebe macht nun einmal verletzlich. Ich denke, das ist eine natürliche Folge. Was wir jedoch ändern und lernen können ist, der Angst vor Verletzlichkeit den Mut zum Verzeihen entgegenzustellen. Wir verändern damit den Fokus: Es geht nicht mehr nur um uns selbst, sondern auch um den anderen Menschen. Akzeptieren wir Enttäuschungen als Lebenserfahrung – wohl wissend, dass jeder immer seine guten, wenn auch unverständlichen und nicht bewussten, Gründe haben mag zu tun, was er tut – dann kann Verzeihen ohne Bitterkeit möglich werden.
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